About Melpomene
30 Jahre MELPOMENE – Die Kunst des langen Atems
Für diesen Text werden Sie keine langen Atem brauchen. Er ist nur ein kurzweiliges Vorwort zum
Eigentlichen, den Kunstwerken. Denn was die Künstler:innen zu sagen haben, ist dort zu finden: sie
erzählen in Bildern. Das Vergnügen, darin zu lesen, will ich hier nicht vorwegnehmen, indem ich Ihnen –
wie weiland Beuys einem toten Hasen – die Bilder erkläre. Hier soll es nur kurz um die Gruppe
MELPOMENE gehen.
1994
Wir schreiben das Jahr 1994. In Deutschland ist die Eichenrotkappe Pilz und der Weißstorch Vogel des
Jahres, Helmut Kohl bleibt Kanzler. In aller Welt geschehen – wie fast immer – schreckliche Dinge.
In Osnabrück beschließen fünf der zu diesem Zeitpunkt 168.050 Einwohner, eine Künstlergruppe zu
gründen. Thomas Bühler, Axel Gundrum, Hinrich van Hülsen, Thomas Johannsmeier, Mukthar Hussein (†)
und Robert Meyer sind zwar noch junge, aber durchaus erfahrene Künstler. Fast alle waren schon Mitglied
in anderen Künstlergruppen wie dem „Werkkreis Grafik der Arbeitswelt“ (1977-1989) oder der Gruppe
der Osnabrücker Realisten (1979- 1983). Überhaupt scheinen es die Jahre der Künstlervereinigungen zu
sein. Parallel zur Melpomene gab es in Osnabrück die Gruppe „Zeitgleich“, die von 1995 bis 1998
existierte. Was hier schon auffällt ist, dass die durchschnittliche Lebensdauer solcher Gruppen wohl eher
im einstelligen Jahresbereich liegt, während die MELPOMENE gerade ihr drittes Jahrzehnt vollendet hat.
Anfang und Taufe
Die Idee zur Gründung der Gruppe entstand bereits 1993 aus dem Wunsch, die Verbindung mit den
gleichgesinnten Kollegen aus dem „Werkkreis“ aufrecht zu erhalten. Wirklich abgeschlossen war die
Gründung mit der Taufe beim Gründungsfest 1994 in Berlin. Dorthin war Thomas Bühler schon 1988 in das Atelierhaus des BBK am Checkpoint Charlie gezogen.
Der Einfall, ihre Gruppe nach Melpomene, der Muse der tragischen Dichtung, zu benennen, kam vom
algerischen Künstler Mukthar Hussein, der von 1994 bis 2004 Mitglied der Melpomene war und 2012
starb. Der Name ist insofern passend, als dass die Maler:innen Dichtung in Bildern betreiben. Ihre Malerei ist nicht im eigentlichen Sinne realistisch. Ihre Bilderwelten strotzen vor Phantasie und Theatralik, sind dramatisch, poetisch und melancholisch. Der Humor, der in den Szenerien aufblitzt, ist skurril, oft eher düster und ironisch. Einflüsse aus der langen Geschichte der figürlichen Malerei lassen sich erkennen und sind manchmal sogar auf die Spitze getrieben.
Das Geheimnis des langen Bestehens der Gruppe ist sicher die Beschränkung auf nur diesen
gemeinsamen Nenner – eine gekonnt und detailreich ausgeführte, figürliche Malerei. Dazu kommt als Gemeinsamkeit die Absicht, mit künstlerischen Mitteln die aktuellen Verhältnisse kritisch zu reflektieren. Denn wer sich die traditionelle Darstellung der Muse Melpomene anschaut, weiß: sie ist bewaffnet. So schön die Bilder der Künsteler:innen auch ausgearbeitet sind, hauen sie uns doch – kaum haben sie uns ins Bildgeschehen gelockt – fast immer die Keule einer krisenhaften Gegenwart um die Ohren.
Skurealismus
Die Sechs, die sich da 1994 zusammentaten, wollten ihre besondere Arte der realistisch
gegenständlichen Malerei gepaart mit skurrilem schwarzen Humor als neue Kunstrichtung verstanden
wissen. Noch zur Gründungsausstellung im Osnabrücker Joducus erschien 1994 der erste Katalog der
MELPOMENE unter dem Titel „Schule des Skurealismus“.
Ein Manifest gaben sich die Künstler nicht und doch gibt es einen „Urtext“ zur MELPOMENE, den der
Osnabrücker Schriftsteller Alfred Cordes 1994 verfasste und in dem er die Gruppe ob des Panoptikums
ihrer schillernden Figuren und absurden Szenerien mit einem Narrenschiff vergleicht. (s. S. 111 )
Die Gruppe nimmt sich und ihre Arbeit ernst, aber nie zu ernst. So gibt sie mit dem ersten Katalog und
darin eingebunden auch gleich ihre eigene satirisch-literarische Zeitung – die „Melpomenische
Weltbühne“ – heraus, mit Texten und Gedichten hauptsächlich von Axel Gundrum und Thomas Bühler.
Die MELPOMENE legt ab
Es ist eine schöne Metapher, sich die MELPOMENE als ein Schiff bevölkert von den Künstlern und ihren
Kreaturen vorzustellen. Für den Wind in den Segeln gründen die Künstler einen Förderverein, deren
Mitglieder bis heute mit eigens geschaffenen Jahresgaben verwöhnt werden und dem, wer will, gern
auch heute noch beitreten kann. Wir gehen an Bord und schauen uns die Besatzung an.
Zu Ihr gehören heute Thomas Bühler, Axel Gundrum, Hinrich van Hülsen, Thomas Johannsmeier, Robert
Meyer und seit 2021 auch Regine Wolff. Alle sind erfahrene Künstler:innen mit zahlreichen eigenen
Ausstellungen im In- und Ausland, Preisen und Stipendien, mit Bildern in öffentlichen und privaten
Sammlungen.
Für Thomas Bühler (geboren in Georgsmarienhütte) legt die MELPOMENE regelmäßig in Berlin an.
Vielleicht hat der Text von Alfred Cordes ihn zu seinem Narrenschiff (S. 5) inspiriert. Eine dichtgedrängte
Menge von Figuren bevölkert das Schiff, jede vielfach bedeutungsbeladen. Wir tauchen ein und haben
Mühe, uns in der Komplexität der politischen Anspielungen und möglichen Deutungen zurecht zu finden.
Und doch wirkt das ganze Schiff aufs Schönste geordnet und gleitet als eigene kleine Welt, gerudert mit
Messer und Gabel, durch das Wolkenmeer.
Diese vielfigurigen, verschachtelt bühnenbildhaften Szenerien sind vielleicht das charakteristischste an
Bühlers Kunst, die neben Malerei auch Zeichnung und Druckgrafik umfasst.
Auch Axel Gundrum (geboren in Hagen aTW, aufgewachsen in Lotte Halen) hat das Osnabrücker Land
2004 verlassen und lebt in Potsdam. Seine Arbeiten sind durchgängig politisch und gesellschaftskritisch.
Auch der Ehrenname „Otto Dix von Osnabrück“ wurde schon (zu recht) verwendet. Gundrum kann in
seiner Osnabrücker Zeit auf eine Einzelausstellung in der Kunsthalle Dominikanerkirche 1989 und im
Kulturhistorisches Museum 1992 zurück blicken. Als bleibende Spur hat Gundrum in der Stadt auch die
Erinnerungsstätte „Hexenwahn“ hinterlassen. Die Arbeit, bestehend aus zwei großen Wandgemälden,
wurde 1987 von Axel Gundrum entworfen und löste große Kontroversen und den Widerstand der
katholischen Kirche aus. Das Werk konnte mit Änderungen 1998 endlich an einem Privathaus in der Mühlenstraße realisiert werden, nachdem es eigentlich für eine Schule vorgesehen war. Auch Kollege
Hinrich van Hülsen hat zur Unterstützung daran mitgearbeitet.
Vom Beginn der MELPOMENE 1994 bis 2007 nahm Gundrum bei allen Ausstellungen teil, danach eher
sporadisch. Bei der Ausstellung in der Kunsthalle ist er wieder dabei, und auch von seinen Osnabrücker
Sammlern wurden Bilder zur Verfügung gestellt.
Auf einem Narrenschiff wie der MELPOMENE sind natürlich alle Kapitän:in und Leichtmatrose zugleich.
Hinrich van Hülsen (geboren in Aurich) jedoch ist inzwischen ihr heimlicher Steuermann. Mit
ostfriesischem Gleichmut steuert er das Narrenschiff durch Stürme und Flauten. In seiner Kunst ist er
Malerpoet und phantastischer Realist. Bei van Hülsen wird die Welt nicht nur weiter gesponnen, sondern
neu erfunden. Seine humorvollen Bildtitel scheinen viel zu erklären und gleichzeitig die Bedeutung der
Bilder noch mehr zu verrätseln. Wir erfahren, dass Edward allein zurück blieb und dass eine Geschichte,
die mit einer Roten Bete beginnt, mit dem Teufel endet. Das klingt erst einmal melancholisch heiter, doch
trifft auch bei van Hülsen die Keule der Melpomene, spätestens, wenn „Der Beefträger“ kommt. Fragt er
nach unserem Fleischkonsum, wenn er uns im Regenwald ein riesiges Kotelett entgegenhält, während
gigantische Fleischmaden vom Himmel stürzen und fette Mutanten-Katzen ihre Zähne fletschen, während
eine Chimäre aus Mensch und Krokodil die Szene betritt?
Thomas Johannsmeier ist das einzige Melpomene-Mitglied, das in Osnabrück geboren wurde. Dass er in
der Kunstgeschichte zuhause ist, daran lassen seine Bilder keinen Zweifel. Neben seiner Kunst arbeitete er
nach dem entsprechenden Studium in Münster und Düsseldorf ab 1981 als Kunsterzieher am
Gymnasium. Er kennt sie alle, die Kollegen aus den verschiedensten Kunstepochen, kennt alles, was die
gegenständliche Malerei zu bieten hat, aber auch die verschiedenen Erscheinungsformen der modernen
und abstrakten Malerei. Ironisch spielt er mit seinem Wissen und demonstriert es in Bildzitaten.
Unübersehbar schlägt sein Herz für die figürliche und da vielleicht besonders für die Barockmalerei.
Gestisch abstrakte Elemente werden als Kontrast gesetzt und wirken eher wie Dekoration und Beiwerk
seiner Figuren. Johannsmeier interessiert die Kunst an sich. Er fragt nach der Bedeutung und der Zukunft
der Malerei. Seine augenzwinkernde melpomenische Kritik gilt dem Kunstmarkt und einer Kunst der
Moden und Trends.
Robert Meyer (geboren in Bad Rothenfelde) lebt heute in Georgsmarienhütte. Der Künstler ist ein
Familienmensch, und so sind in den Protagonisten seiner Bilder für die Eingeweihten oft
Familienmitglieder zu erkennen. Sie dienen ihm als Modelle, denn es geht Meyer dabei nicht einfach
darum, seine Angehörigen zu porträtieren. Sie werden zu Darstellern in seinen Geschichten. Oft ist die
Szene theatralisch ausgeleuchtet, sind die Personen wie auf einer Bühne arrangiert, im entscheidenden
Moment höchster Spannung oder Konzentration eingefangen. Rotkäppchen ist eine gestandene Frau, der
dank Rottweiler kein Wolf Angst macht. Wenn sie sich wirklich noch auf den Weg zur Großmutter macht,
könnte sie nachts im Wald Fischmeyers treffen und es ist unklar, wer sich dann vor wem fürchten muss.
2021 kam Regine Wolff (geboren in Perleberg, Land Brandenburg) als erste Frau an Bord der
MELPOMENE. Nachdem sie erst 2020 als Gast der Gruppe mit ausgestellt hatte, wurde die Malerin in die
Gruppe aufgenommen. Schon 1998 kam Wolff nach Osnabrück, fing aber erst 2010 an, ihre Kunst, die sie
bis dahin neben ihrer Arbeit als Designerin betrieb, auch auszustellen. 2013 hatte sie eine erste
Einzelausstellung im KunstQuartier des BBK-Osnabrück. Seit 2015 arbeitet sie ausschließlich als Bildende
Künstlerin und ist – wie die Melpomene-Gründungsmitglieder in jungen Jahren – im BBK Osnabrück für
die Belange der Künstler engagiert.
Die „wilden Jahre“ der Melpomene hat Wolff also nicht miterlebt. Mit ihrer detailreichen figurativen
Malerei passt sie ohne Zweifel in die Gruppe. In Ihren Bildern geht es ihr darum, die Trennung von
Mensch und Natur als künstliches Konstrukt zu entlarven. Ihr großes Thema sind die Folgen, die
gesellschaftliche und politische Handlungen für unsere Lebensgrundlagen haben. In ihren komplexen
vielschichtigen Arbeiten geht es um unser bizarres Dasein im Anthropozän.
2024
Jetzt ist die MELPOMENE schon 30 Jahre auf See. In dieser langen Zeit war die Gruppe mit ingesamt XX Ausstellungen regional, deutschlandweit und international unterwegs.
Ausstellungen führten Sie bis nach Frankreich und – gerade leider nicht mehr vorstellbar – nach Moskau . Trotzdem ist die MELPOMENE besonders den Osnabrücker Kunstliebhabern ein Begriff und die Stadt ihr Heimathafen geblieben.
Dieses Buch erscheint gleichzeitig mit der Eröffnung der Ausstellung der MELPOMENE in der Kunsthalle Osnabrück. Es ist ein Gastspiel, zu dem die Direktion der Kunsthalle die Gruppe eingeladen hat. Die MELPOMENE hat auf diese Ausstellung 30 Jahre gewartet. In den Anfangsjahren der Kunsthalle (Dominikanerkirche) waren einzelne Melpomene-Mitglieder bei der Arte Regionale dabei. In der Gruppenausstellung „Traumschiff der Narren“ im Jahr 2000 waren die damaligen Mitglieder fast vollzählig vertreten. Zu einer Einzelausstellung MELPOMENE konnte sich die Leitung der Kunsthalle auch in den aktivsten Jahren der Gruppe nicht entschließen.
Wir schreiben das Jahr 2024. Pilz des Jahres ist der Schopf-Tintling, Vogel des Jahres ist der Kiebitz, der leider wie die meisten Wildtiere in Deutschland auf der roten Liste der gefährdeten Arten steht. In aller Welt geschehen schreckliche Dinge.
Dank der unvoreingenommenen Offenheit von Juliane Schickedanz und Anna Jehle gegenüber allen
Formen der Kunst – selbst der gegenständlichen Malerei von Künstlern „aus der Region“ – sind 30 Jahre nach ihrer Gründung die SkuREALITÄTEN der Gruppe MELPOMENE in der Kunsthalle Osnabrück zu sehen.